Klavierauszug
Als Klavierauszug bezeichnet man die Klavierfassung einer Orchesterpartitur,
beispielsweise einer Oper, eines Oratoriums, aber auch einer Sinfonie,
einer Schauspielmusik oder eines Balletts. Praktische Bedeutung
bekommt der Klavierauszug vor allem bei der Korrepetition von Vokalsolisten,
bei Chorproben und bei Proben für szenische Aufführungen
von Oper und Ballett, bei denen der Einsatz eines Orchesters nicht
sinnvoll und finanziell nicht machbar ist.
Geschichte
Der Klavierauszug entwickelte sich, seit der Generalbaß als
akkordisches Gerüst für musikalische Ensembles nicht
mehr üblich war, also seit Mitte des 18. Jahrhunderts. Klavierauszüge
mit eigenen Systemen für die Singstimmen sind seit den 1770er
Jahren belegt. Um die Wiedergabe der Instrumentation bemühten
sich die Klavierauszüge seit dem 19. Jahrhundert. Spezifische
Spieltechniken des Klavierauszugs wie Oktavverdopplungen und Tremoli
haben auch umgekehrt die Satzweise von originalen Klavierkompositionen
beeinflusst.
Technische Erleichterungen beim Notendruck und die Verbreitung
der Hausmusik führten ab etwa 1830 zu hohen Auflagen. Mit
der zunehmenden Komplexität der Satzstruktur seit dem späteren
19. Jahrhundert wurden Klavierauszüge problematisch. Einige
Komponisten haben selbst Klavierauszüge oder Klavierfassungen
ihrer Werke erstellt; Beispiele dafür sind Johannes Brahms
(Ein deutsches Requiem), Max Reger (100. Psalm) und Carl Orff (Carmina
Burana).
In seltenen Fällen wurden Klavierauszüge auch ganz oder
teilweise vierhändig oder sogar für zwei Klaviere gesetzt,
wenn die musikalische Struktur sehr kompliziert ist. So enthält
zum Beispiel der Klavierauszug von Alban Bergs Oper Wozzeck einige
vierhändige Abschnitte, während es zu Béla Bartóks
Ballett Der wunderbare Mandarin einen Klavierauszug gibt, der durchgehend
für zwei Klaviere gesetzt ist. Die reduzierte Aufführung
von Opern mit zwei Klavieren war lange Zeit üblich.
Seit dem 20. Jahrhundert nahm die Bedeutung der Klavierauszüge
für neue Werke ab: Die Unterhaltungsmusik und der Jazz bevorzugten
oft eine Reduktion des Klaviersatzes auf Akkordsymbole, und die „ernste
Musik“ erreichte im Gegenteil eine Komplexität, die
eine Reduktion auf den Klavierklang fragwürdig erscheinen
ließ. – Für das Einstudieren von Opern und anderen
Vokalwerken sind Klavierauszüge nach wie vor unentbehrlich.
Herstellung und Eigenheiten
Die klaviergerechte Notation eines Orchestersatzes auf zwei Notensystemen
birgt spezifische Probleme. Manche Eigenheiten des Orchesterklangs
können auf dem Klavier nur näherungsweise wiedergegeben
werden – wie Akkorde, die sich über mehrere Oktaven
erstrecken, lange ausgehaltene oder anschwellende Töne, Perkussionsklänge
ohne genaue Tonhöhe oder der Unterschied zwischen arco und
pizzicato bei den Streichinstrumenten.
Traditionelle Kunstgriffe, um Orchesterklänge in Klavierauszüge
umzusetzen, sind etwa Alberti-Bässe für repetierte Streicherakkorde, „Brillenbässe“ für
Tremoli oder Schlagzeug-Wirbel sowie kurze Arpeggio-Akkorde für
Streicher-Pizzicati.
Wenn versucht wird, den gesamten Notentext der Partitur umzusetzen,
wird der Klavierauszug unübersichtlich und bei größeren
Orchesterbesetzungen beziehungsweise komplexen Satzstrukturen kaum
mehr spielbar. Wird der Notentext zugunsten der Spielbarkeit reduziert,
handelt es sich genau genommen um eine Interpretation, da manche
Merkmale hervorgehoben und andere vernachlässigt werden müssen.
In moderneren Klavierauszügen werden erwähnenswerte Nebenstimmen,
die den Klaviersatz überladen würden, manchmal mit Stichnoten
angedeutet.
Funktionen
Konzertaufführung, Einstudierung und Hausmusik
Im 19. Jahrhundert gab es Klavier-Paraphrasen zum Konzertgebrauch,
die nichts anderes als komplizierte Klavierauszüge waren.
Solistische Konzertaufführungen von Klavierauszügen gibt
es kaum noch. Klavierauszüge dienen heute hauptsächlich
zur Einstudierung. Die Praxis, die den Klavierauszug vor allem
zur professionellen Einstudierung vorsah (aber mit seinem Verkauf
an Musikliebhaber rechnete), ist zu unterscheiden von den zahlreichen
vierhändigen Einrichtungen für das häusliche Musizieren
von Amateuren, die in der Rezeptionsgeschichte eine nicht zu unterschätzende
Rolle spielen und deren Beliebtheit erst mit der allgemeinen Verbreitung
von Schallplatten Anfang des 20. Jahrhunderts abnahm. Für
die Hausmusik gab es auch zahlreiche Klavierauszüge von Solokonzerten
oder Sinfonien.
Vor allem in der Chormusik gibt es auch heute noch Aufführungen
mit Klavier statt mit Orchester. Direkt verwandt mit dem Klavierauszug
ist der Orgelauszug, bei dem ein Orchesterpart für die Orgel
eingerichtet wird; dieser wird überwiegend für Aufführungen
im Gottesdienst verwendet. Die Besetzung Chor und Orgel hat sich
zu einer eigenständigen Gattung entwickelt.
Choreografie und Inszenierung
Der Klavierauszug ist eine wichtige Quelle für die Ballettmusik
des späten 18. und gesamten 19. Jahrhunderts. Viele Ballette
wurden im Klavierauszug wiedergegeben. Dieser diente dann entweder
als Vorlage zur Hausmusik, wo man entsprechend den Opern auch die
Ballette „nachhören“ wollte. Zum anderen dienten
sie als Vorlage zur Einstudierung der Ballette und wurden dann
mit „Répétiteur“ (Korrepetitor) markiert.
Oft enthalten diese Répétiteur-Klavierauszüge
Eintragungen zur Choreografie und sind somit eine wichtige Quelle.
In der Oper werden Klavierauszüge auch als Regiebuch zu Handen
der Regieassistenten verwendet, in dem synchron zum musikalischen
Ablauf Auftritte oder bühnentechnische Aktionen notiert sind.
Ebenso arbeiten die Souffleure mit dem Klavierauszug. – Auch
zur Übersetzung von Operntexten oder zur Planung einer Regie
werden Klavierauszüge den Orchesterpartituren vorgezogen,
weil die Gesangstexte lesbarer sind und man seltener blättern
muss.
Klavier-Direktion
Eine weitere Variante des Klavierauszugs ist die Klavier-Direktionsstimme,
die in der Unterhaltungsmusik des 19./20. Jahrhunderts (Salonorchester)
die Praxis des Generalbasses weiterführte, also eine rhythmische
und akkordische Basis bildete, um den Zusammenhalt des oft heterogenen
Orchesters zu gewährleisten und den am Klavier sitzenden Orchesterleiter
anstelle einer Partitur über den Fortgang des Musikstücks
und die Einsätze orientierte. Diese Art des ausgeschriebenen
Klavierauszugs geht im 20. Jahrhundert über in eine Akkordbezifferung
für Keyboard.
Auch im Bereich der Operette lagen auf dem Dirigentenpult meist
Klavierauszüge anstelle von Partituren. Für die Wiener
Operetten der „Silbernen Epoche“ gilt dies heute noch
zum großen Teil. Die Orchesterpartituren wurden aus Angst
vor illegalen Kopien zunächst nicht gedruckt und dafür
die Klavierauszüge zum Dirigieren eingerichtet. Erst seit
etwa den 1990er Jahren sind mehr und mehr Dirigierpartituren zu
Operetten verfügbar. Gut gemachte Klavierauszüge dieses
Genres enthalten allerdings die zum Dirigieren nötigen Informationen,
wenn auch diese Tradition mittlerweile abgebrochen ist.
Klavierskizze
Den umgekehrten Weg einer Erweiterung vom Klaviersatz zum Orchestersatz
nehmen die Klavierskizzen, die von manchen Komponisten wie etwa
Gustav Mahler zur Vorbereitung angefertigt wurden. In der Partitur
wiedergegebene Klavierskizzen kommen in italienischen Opern für
die Stimmen der Banda vor, die erst am Aufführungsort für
die örtliche Blasmusik arrangiert wurden. – Eine Mittelstufe
zwischen Klavierskizze und Partitur ist das Particell.
Auch für die arbeitsteilige Produktion von Musik kann die
Klavierskizze von Bedeutung sein: Für die Herstellung von
Filmmusik im Studiosystem (etwa bei Max Steiner) wurde die Musik
zunächst in Form einer Klavierskizze oder eines Particells
angefertigt und daraufhin von Spezialisten instrumentiert.
Literatur
* Hans Heinrich Eggebrecht (Hrsg.): Riemann Musiklexikon, Sachteil,
Mainz: Schott 1967, S. 465
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